Michael Stenger steht auf der Bühne des Künstlerhauses am Münchner Lenbachplatz und spielt einen ukrainischen Schüler nach. "Ja, ich bleibe hier", zitiert er den Jungen. Dann wechselt Stenger seine Position um zwei Schritte: "Nein, ich geh wieder nach Hause in die Ukraine." Dann macht Stenger wieder zwei Schrittchen zurück. Denn am nächsten Tag wollte der Junge wieder hierbleiben. Und dann wieder zurück nach Kiew. Schulleiter Stenger flipfloppt wie wild hin und her. Er spielt das ziemlich gut. Und zeigt damit das riesige Dilemma ukrainischer Schülerinnen und Schüler. Während zu Hause ihre Väter das Land verteidigen, sind sie mehr als tausend Kilometer entfernt – und können sich nicht entscheiden.

Stenger und seine bayerische Schlau-Schule haben eine Lösung präsentiert, für die sich nun auch Polen oder Kanada interessieren. An der Schule, die jungen Geflüchteten seit dem Jahr 2000 "schulanalogen Unterricht" (abgekürzt SchlaU) anbietet, haben die ersten 20 jungen Leute das Abitur abgelegt – und zwar das ukrainische. Das ist eine ziemlich geniale Lösung für eine innerlich zerrissene Gruppe Jugendlicher, die inzwischen auch Psychologen und Sozialarbeitern große Sorgen bereitet. Sie machen hier in Deutschland das Abitur, das Atestat und den sogenannten Nationalen Multi-Test. Dann steht ihnen der Weg offen, um an einer der ukrainischen Hochschulen zu studieren oder an einer deutschen. Bei der Feier vergangene Woche im Künstlerhaus gab es viel Lob für Michael Stenger und seine ukrainische Programm-Managerin Katya Milianovska. 

Schwierige psychische Situation ukrainischer Schüler

Denn die Situation ist in Wahrheit dramatisch. Vor allem für die jungen Ukrainerinnen und Ukrainer, von denen inzwischen 200.000 in Deutschland schulpflichtig sind. Obwohl die Schulminister und -ministerinnen der Länder für die ukrainische Diaspora nach Beginn des Krieges schnell die Ampeln auf Grün schalteten, fremdeln die Geflüchteten und die deutsche Schule. Die Schüler und Schülerinnen lernen nicht so gut Deutsch, wie man das von den als besonders fleißig wahrgenommenen Ukrainern erwartet hatte. Sie haben massive psychische Probleme; was nur zu verständlich ist, wenn man bedenkt, dass ihre Väter jeden Tag an der Front sterben könnten. Eine mit vielen Experten aus der Ukraine und Deutschland besetzte Podiumsdiskussion in München zeigte nun: Eineinhalb Jahre nach Beginn des Krieges wird immer noch an Grundfragen herumgedoktert. 

Die Schlau-Schule macht das ganz anders. Sie ist es gewohnt, mit unkonventionellen Ansätzen jenen zu helfen, die der deutsche Schul-Bürokratismus am Lernen hindert. Im Kultusministerium hat man Stengers Schule deswegen lange kritisch beäugt. Die Schlau-Schule hat vor fast zehn Jahren den Deutschen Schulpreis gewonnen. Das Erfolgsrezept der kleinen Schule in Sendling: die Persönlichkeit der jungen Geflüchteten stärken, den Schwerpunkt auf Deutsch legen, und zwar Deutsch als Fremdsprache. Und Vielfalt. "Für das Kollegium der Schlau-Schule ist die Heterogenität ihrer Schülerschaft kein Hindernis, sondern eine Herausforderung", heißt es in der Beschreibung der Bosch-Stiftung für den Schulpreis. 

Schlau-Schule stellt Schüler ins Zentrum, die Taskforce Regeln

Man muss nur vergleichen, wie die Schlau-Schule gearbeitet hat – und wie die sogenannte Taskforce Ukraineder Kultusministerkonferenz (KMK). Dann erkennt man die Differenz. 

  • Die Schlau-Schule hat in kürzester Zeit jenen geflüchteten Schülern ein Angebot unterbreitet, die kurz vor dem Abi standen. Kernelemente: psychosoziale Hilfe, Kooperation mit ukrainischen Schulen, ukrainische Lehrerinnen wie Lehrpläne – und Deutsch als Intensivangebot. Mit an Bord waren zwei Partnerschulen in Ternopil im Westen der Ukraine. Die Mischung: 20 Prozent über Online- oder Blended-Learning-Formate und 80 Prozent in Präsenz. Zusätzlich haben die Schüler fünf Stunden Deutschunterricht in der Woche.
  • Die Taskforce hingegen hat erst mal sehr lange geprüft – und dann nicht etwa die ukrainischen Schüler, sondern die deutschen Vorschriften in den Mittelpunkt gestellt. Das Mantra, das ein Mitglied der Taskforce in München vortrug, bedeutet für junge Ukrainer: erstens Deutsch lernen, zweitens das deutsche Schulsystem verstehen. Drittens: "Das müssen wir erst noch organisieren." Und viertens: Ukrainische Onlineschulen bekommen keine Förderung. Die Taskforce hat, wie berichtet, dieses wichtige Element nach monatelanger Prüfung abgelehnt.

Der Unterschied klingt kompliziert. Erklärt es die 17-jährige Schülerin Anastasiia, die gerade an der Schlau-Schule das Abi bekommen hat, wird es ganz einfach. "Für mich war die Möglichkeit entscheidend, den ukrainischen Schulabschluss in Sicherheit zu machen. Mir persönlich fehlte nur ein Jahr, um den Schulabschluss zu bekommen. Wenn ich aber zum Beispiel in ein deutsches Gymnasium gehe, dann muss ich vier oder mehr Jahre lernen, um zum Schulabschluss für die Hochschule zu kommen." 

Schülerin gewinnt drei Jahre Lebenszeit

Das heißt: Der Unterschied, das sind drei bis vier Jahre Lebenszeit. Auch Dagmar Wolf von der Bosch-Stiftung kennt die Differenz zwischen der KMK-Schule und der Schlau-Schule. Aber sie drückt es positiv aus. "Wir können von Schulen wie der Schlau-Schule Ideen übernehmen für das System, damit wir in der nächsten Situation nicht wieder von Neuem überlegen, was wir tun müssen." Die Taskforce überlegt übrigens immer noch. Sie hat gerade die 72. Sitzung hinter sich gebracht – zum Schutze der deutschen Vorschriften. Michael Stengers Credo aber war ein anderes. "Die vom Krieg unterbrochenen Schullaufbahnen schnell weiterführen zu können!"

Deutsch zu lernen, ist selbstverständlich wichtig. Aber für viele der ukrainischen Schüler hat es überhaupt keine Priorität. Sie tun es zwar, aber meist ohne große Energie. Denn rund 60 Prozent von ihnen wollen wieder nach Hause, wie eine Umfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zeigte. Für die Ukrainer hat Stengers Schule deswegen ein Angebot maßgeschneidert. Denn für die Schlau-Schule gelten nicht Regeln als oberstes Prinzip, sondern das, was der jeweilige Schüler braucht. Und die benötigen nun mal gute Angebote in ukrainischer Literatur, Geschichte und Kultur – am liebsten von ukrainischen Lehrerinnen, die in der Schlau-Schule gute Jobs haben. Dazu gehört auch die Chance auf einen ukrainischen Abschluss, der zum Studium an einer ukrainischen Hochschule berechtigt. 

Das Münchner Modell wurde zu einem Vorbild, allerdings noch nicht in Deutschland. Institutionen in Polen und Tschechien, wo viel mehr ukrainische Schüler sind als in Deutschland, interessieren sich für den Ansatz der bayerischen Schule. Sogar aus Kanada, dem Weltmeister in der pädagogischen Integration von Zuwanderern, sind Anfragen eingegangen. So anerkannt war die Schule des "Deutsch als Zweitsprache"-Lehrers Stenger nie. Diesmal aber kreuzte sogar Bayerns Schulminister Michael Piazolo (Freie Wähler) auf, um ein bisschen von den Lorbeeren der Dissidenten-Schule abzubekommen. Schließlich ist Wahlkampf in Bayern. 60 Schüler und Schülerinnen hat Michael Stenger in der Abitur-Vorbereitung fürs nächste Jahr aufgenommen. 300 Schüler aber könnte er in diese Kurse aufnehmen. Auf Stengers Frage nach finanzieller Unterstützung reagierte Piazolo: nicht.

Dieser Beitrag wurde übernommen aus dem Bildung.Table Professional Briefing vom 26. Juli 2023.